rua. Kooperative für Text und Regie
Kooperative für Text und Regie

Martin Bieri

Martin Bieri
© Adrian Moser

Vita

www.martinbieri.net

Martin Bieri, geboren 1977, lebt und arbeitet in Bern. Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte, Promotion zu zeitgenössischem Theater und Landschaftstheorie. Autor, Dramaturg und Journalist in Deutschland und der Schweiz. Langjährige Zusammenarbeit mit der freien Gruppe „Schauplatz International“, zwischenzeitlich Dramaturg am Theater Neumarkt Zürich und am Luzerner Theater. Aktuell Kooperation mit der Performancegruppe „ultra" sowie den RegisseurInnen Max Merker und Marie Bues und Arbeiten als freier Dramaturg am Theater St.Gallen. Autor diverser Stücke und wissenschaftlicher Veröffentlichungen, schreibt für verschiedene Tageszeitungen und die Schweizerische Depeschenagentur über Kunst und Fußball. Für seine Lyrik wurde er 2016 mit dem Literaturpreis des Kantons Bern, 2017 mit dem Literaturpreis der Stadt Bern ausgezeichnet.

Sein Stück GEISTERSPIEL (Koautor Andri Beyeler) liegt beim Theaterstückverlag München.

00:00
Flimmern war wohl nicht das richtige Wort
für diesen Sturz nach innen oder wohin,
nach draussen, in eine Nacht ohne Licht,
ganz ohne, deine Tischlampe hielt dich

und den Bildschirm leuchtend, durch dich
du dehntest dich aus, du schwandst und
wusstest nicht, wo bin ich, wo bin ich hin,
wo werde ich mich finden, denn ein Ort

war das nicht mehr, und ein Wort dafür
fehlte dir auch, du dachtest nicht nach,
Flackern, der letzten Kraft wegen, Flackern.

Aus: Martin Bieri, Europa, Tektonik des Kapitals, München 2015

Texte

Im Stall stehen Esel und Ross: Donkey der Schotte –weil sein Fell so gemustert ist wie ein Schottenrock – und das Pferd, das sich Rosi nannte, weil sein Herr doch glatt seinen Namen vergessen hat. Sein Herr heißt Herr Ritter und ist ein pensionierter Lehrer und passionierter Leser von Ritterromanen. Seit er viel vergisst und vieles verwechselt, sorgt Sancha Pančić, eine unfreiwillig Weitgereiste mit einer weitverzweigten Verwandtschaft, für ihn. Doch Herrn Ritters Tochter Antonia traut Frau Pančić nicht und will ihren Vater in eine Seniorenresidenz geben. Als dann auch noch eine Politikerin in Herrn Ritters Garten Windräder aufstellen lassen will, nehmen Herr Ritter und Frau Pančić Reißaus. Donkey und Rosi tun es ihnen gleich und die Schicksalsgemeinschaft macht sich auf die Suche nach Herrn Ritters Katze Dulcinea. Eine Raststätte wird zur Burg, Kinder zu gefangenen Zwergen, eine Schafherde zu einem Kriegsgetümmel, ein Unwetter zu einem feuerspeienden Drache und Windräder zu gefährlichen Riesen. Ein aus einem Käfig befreiter Löwe hingegen erweist sich als harmloser Popcornverkäufer. In die Geschichte des berühmten Ritters von der traurigen Gestalt webt das Berner Autor:innenduo aktuelle Themen wie Alter, Migration und saubere Energie mit ein.

"Donkey der Schotte und das Pferd, das sich Rosie nannte" ist ein Stück über Freundschaft und Zusammenhalt, eine Abenteuerreise auf dem Rücken eines Esels und eines Pferdes, die sich sehr mochten.

Was haben ein Schweinebauer, eine Hellseherin, ein Faxenmacher, eine Brokerin aus Beijing, eine Consultant in der Nahrungsergänzungsmittel-Branche, ein Architekturtheoretiker und ein IT-Troll gemeinsam? Sie sind Heimatsuchende und Aussteiger zugleich, glauben an ihre kleine Gemeinschaft in Schilda und an ein kühles Getränk in der Kneipe.

Vor drei Jahrzehnten ist Schilda abgebrannt. Nach und nach kehrten die Schildbürger oder ihre Kinder zurück. Ihr Rückzug aus der Welt der Mächtigen und des Kapitals ist endgültig und hat Methode. Standhaft weigern sie sich, aus Schaden klug zu werden und je dümmer sie sich stellen, desto freier fühlen sie sich: Sie versalzen ihren Acker, versenken ihre Glocke im See und bauen ein Rathaus ohne Fenster. Sie sind die neuen Verfechter der Blödheit als Weg der Erkenntnis. Konvention gilt ihnen nur etwas, wenn sie selber draufgekommen sind, ihr politisches System basiert auf dem reinen Dogma der Unvernunft und der Zugehörigkeit.

Die Neuadaption der um 1600 verfassten Sammlung von Erzählungen, den Schildbürgerstreichen, des Berner Autor:innenduos implementiert Themen des heutigen Europas von Heimat, Abschottung und Ausgrenzung in den wundersamen selbstgezimmerten Bunker des Schabernacks. Der ihm zugrundeliegende Eigensinn ist damals wie heute brandgefährlich.

"Nec aspera terrent" heißt so viel wie "Keine Schwierigkeiten schrecken uns". Der Spruch zierte einen Orden, der sich bei den Überresten einer Arktisexpediton fand.

Vor mehr als 160 Jahren schickte das Königreich England mehrere Entdeckungsreisen aus, um die Nordwestpassage zu erschließen. Die Größte, angeführt von Sir John Franklin, verschwand 1848 spurlos im Eis. Franklis Frau finanzierte einige Suchaktionen, in deren Folge die Küstenlinie Nordamerikas kartographisch erfasst wurde, so dass Lady Franklin heute als heimliche Entdeckerin der Nordwestpassage gilt.

KEINE SCHWIERIGKEITEN SCHRECKEN UNS erzählt vom Verhalten einer sich selbst zerstörenden Zivilisation aus drei Perspektiven. Die erste ist eine Begegnung zwischen Lady Franklin und John Rae, der die Nachricht nach England mitbrachte, dass die Seeleute sich gegenseitig aufgegessen hätten. Eine skandalöse Behauptung, befeuert unter anderem durch Charles Dickens' Rassismus gegen die Inuit. Die zweite lauscht den sterbenden Männer im Eis. Bis sie sich töten, halten sie an ihren Umgangsformen – und dadurch in gewisser Weise an ihrer Menschlichkeit – fest. Gerahmt werden die beiden Teile von einem Monolog des Geists Franklins: Eigentlich hätte man nur warten müssen, bis sich die Nordwestpassage geöffnet hätte, 200 Jahre zwar, aber doch: Nichts tun hätte geholfen.

Mit dem Klimawandel wird die Route in den kommenden Jahrzehnten eisfrei. Neben Kanada stellen auch andere Staaten Gebietsansprüche in der Polarregion, die für den Schiffsverkehr immer wichtiger wird und in der auch reiche Bodenschätze lagern.

Das sagt Mary Frith, reales Vorbild für eine Figur, wie es sie im europäischen Theater kein zweites Mal gibt: Moll Cutpurse alias Mad Moll alias The Roaring Girl. Frith, 1584 geboren, queer zu jeder Festschreibung, trans*, nonbinär, eine Größe auf den Showbühnen und in der Halbwelt Londons, wegen Crossdressing und "grober Unsittlichkeit" zu Gefängnis verurteilt, in Erinnerung geblieben als Mensch, der gegen alle Konvention frei lebte. 1610 haben Thomas Dekker und Thomas Middleton ihr ein dramatisches Denkmal gesetzt. Das historische Stück "Roaring Girl" hat Martin Bieri erstmalig ins Deutsche übersetzt. Mit "Roaring" verdichtet er es zu einem vielstimmigen Monolog über Gender, Identität, Begehren und Widerstand. Alle Figuren spielend eignet sich Mary Frith diese ihre Geschichte 400 Jahre nach ihrem glamourösen ersten Auftritt wieder an.

Es gibt Stücke, die haben mehr als ein Leben. Und es gibt Figuren, die kehren wieder. Moll Cutpurse, das Roaring Girl: Diebin, Schlägerin, Hehlerin, die berühmteste Kriminelle ihrer Zeit. Eine Frau, die sich kleidete, wie ein Mann, die sprach, wie ein Mann, die lebte, wie ein Mann. Thomas Middleton und Thomas Dekker haben ihr um 1610 ein Denkmal gesetzt, von dem man auf dem Kontinent bis heute kaum Notiz genommen hat.
Eine derbe City Comedy voller aktueller Fragen nach dem Verhältnis der Geschlechter, nach Liebe und Ökonomie, nach Sprache als Gift. Und mitten drin das Roaring Girl, zornig, schneidend, schlau und provokant, wie eine, die wir kennen. 
(Martin Bieri)

Sofja Petrowna lebt mit zwei großen Lieben, folgt einer Leidenschaft und steht unter zwei Verpflichtungen. Sie liebt ihren verstorbenen Mann und ihren Sohn Kolja, einen begabten, linientreuen Ingenieurstudenten. Mit Disziplin und Hingabe arbeitet sie als Stenotypistin in einem Leningrader Verlag und stellt ihr Leben in den Dienst ihres Sohnes und der sowjetischen Ordnung. Doch als Sofja Petrownas Kollegen der Reihe nach verschwinden und Kolja im Zuge der Großen Säuberung verhaftet wird, bricht die Willkür des Systems in ihr Leben ein. Haltlos irrt sie durch Ämter und Warteräume, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, auf der Suche nach Gerechtigkeit in einer Ordnung, die keiner Logik folgt. Erst als sie äußert: "Der Frühling kommt, wie spät es erst zu dunkeln beginnt" dämmert ihr allmählich die Ausweglosigkeit: aus einem System, an das sie kaum noch glauben kann, und der Gefangenschaft Koljas, dessen Befreiung sie nur noch mühsam zu hoffen und erringen wagt.

Mitten im stalinistischen Terror der 1930er-Jahre berichtete die russische Autorin Lydia Tschukowskaja mit Sofja Petrowna aus dem sowjetischen Totalitarismus: Menschen verschwinden und alle schweigen. Ein einzigartiger Roman über Systemglaube und Desillusionierung einer grausamen und verängstigten Gesellschaft, der in der Sowjetunion erst 1988 erscheinen konnte.

"Sie [Brüesch] macht aus Tschukowskajas Vorlage einen Erzähltheaterabend. Mit Respekt vor dem Text [...] inszeniert Brüesch die Geschichte der einfachen Genossin Sofja Petrowna. Brüesch findet überzeugende Bilder und Tableaus, die die Ausweglosigkeit Petrownas zeigen.", so Julia Nehmiz auf Nachtkritik zur Erstaufführung der Bearbeitung im Doppelabend "Sofja Petrowna / Republik der Taubheit" am Theater St.Gallen am 17.10.2024 in der Regie von Barbara-David Brüesch.

Wir vertreten momentan nur die Rechte an der Bearbeitung.

Lucias Oma stirbt. Ihre Eltern, die im Ausland in der Fabrik und auf dem Bau arbeiten, bringen die Zehnjährige samt Stoffbär Teddy und Puppe Betty im Kofferraum über die Grenze. Nach Finsterland. Weil Lucias Aufenthalt dort illegal ist, lebt sie fortan versteckt in der abgedunkelten Wohnung. Sich nurmehr auf Zehenspitzen bewegend, kennt sie bald jedes Geräusch im Haus: vom bröckelnden Putz bis zum rülpsenden Baby. Sie wird zur alleinigen "Herrscherin von Finsterland". Doch eines Tages hat sie genug. Auf der Suche nach Licht öffnet sie das Fenster und lässt prompt Betty fallen. Herr Herbster, der Nachbar, der schon länger ahnt, dass in der Wohnung gegenüber irgendetwas nicht stimmt, bringt ihr die Puppe zurück. Eine wortlose Freundschaft entwickelt sich zwischen dem einsamen Kauz und dem lebenshungrigen Mädchen. Zu Lucias Pech ist Herr Herbster aber von Beruf Beamter bei der Fremdenpolizei iund irgendwann tut er, was er schon immer getan und immer tun wird: die Gesetze seines Landes befolgen.

Ariane von Graffenried und Martin Bieri erzählen aus der Perspektive eines Kindes ein finsteres Märchen über die unmenschlichen Bedingungen, denen die Saisonarbeiterfamilien in der Schweiz in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ausgesetzt waren.

Extras