rua. Kooperative für Text und Regie
Kooperative für Text und Regie

Tine Rahel Völcker

Tine Rahel Völcker
© Annette Zoepff

Vita

Tine Rahel Völcker ist Autorin von Theaterstücken, Hörspielen und Prosa. Theaterstücke von ihr wurden u.a. am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Berliner Maxim Gorki Theater und ihre jüngsten Arbeiten am Staatstheater Augsburg uraufgeführt.

2020 erscheint ihr Prosadebüt Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez-vous de Tarnów. 2021 folgt das Buch Frauen der Unterwelt. Queerfeministische Antworten auf Psychiatriegewalt, Sexismus und Ableismus. 2022 erscheint bei Unrast ihr Essay Vom Hindukusch bis Buchenwald: Suhrabs Flucht und das Ende der Menschenrechte in Europa. Im Februar 2024 wird ihr Theaterstück Die gefährlichste Frau Amerikas über die Anarchistin Emma Goldman am Staatstheater Augsburg uraufgeführt. 2024/2025 inszeniert Jorinde Dröse ihre Antikenüberschreibung nach Euripides, Sophokles und Aischylos We are family am Schauspiel Köln und Nicole Schneiderbauer inszeniert die Uraufführung von Gesänge vom Überleben am Staatstheater Augsburg.

Völcker war Hausautorin am Nationaltheater Mannheim, erhielt für ihr Werk den Preis der Kulturstiftung der Dresdner Bank sowie zahlreiche Stipendien.

Des Weiteren ist Völcker regelmäßig an der Schnittstelle von Literatur und Geschichtsvermittlung in Gedenkstättenprojekten tätig. Dort ringt sie gemeinsam mit Historiker*innen und Aktivist*innen um eine Sprache des Gedenkens im Spannungsfeld zwischen den offenen Wunden der NS-Verbrechen und aktuellen rechten Hass-Verbrechen.

Sie lebt mit ihrem Sohn in Berlin.

Texte

Der polnische Jude Adam sucht die Deutschen und findet sie in den Kneipen der deutsch-polnischen Grenzstadt, wo er noch immer bei seiner Mutter Tereza lebt. Die will mit Deutschen nichts zu tun haben. Sie muss die Geschichte des Holocaust erinnern, die Geschichte ihrer polnisch-jüdischen Eltern, denen - 1938 aus Deutschland vertrieben - die Rückkehr nach Polen verwehrt wurde.
Je größer die Tragödie desto heftiger die Komödie. Und so besteht das Stück -vom grausamen Motiv der verunmöglichten Flucht durchzogen- fast ausschliesslich aus zwei komisch-absurden "Kater"-Dialogen, die Adam mit seinen aufgegabelten Deutschen führt. In "Zukunft der Betrunkenen" ist es Henriette, die sich auf einer temporären Flucht aus ihrem Familienleben befindet, zwanzig Jahre später in "Gedächtnislärm" der schwule Narkosearzt Rudi, der den Flüchtlingen in Ungarn helfen will, es aber nicht bis dorthin schafft. Beide bleiben erst in der Kneipe, dann bei Adam hängen. Beide erwachen in einem Deckenhaufen in der kleinen Wohnung, in deren Hinterzimmer die misantrophe Mutter haust, deren Anwesenheit Adam gerne lapidar herunterspielt. Er sucht die Liebe der Deutschen, und zwar so sehr, dass er in seinem Wahn die Zeitachse der Wirklichkeit verbiegt. Mit Henriette wäre er schon seit einem Jahr zusammen und sie habe es nur wieder vergessen wegen des Alkohols. Mit Rudi wolle er nach Hamburg, ihm überallhin folgen, dann aber sind die Geräusche und Rufe seiner mittlerweile bettlägerigen Mutter aus dem Hinterzimmer nicht mehr zu überhören.
Mit klar gezeichneten Figuren, die gerne mal mit selbstanalytischen Kampfreden aus sich heraustreten, beschreibt die Autorin wie es ist, hängenzubleiben, nicht nur in der Wohnung, bei der Mutter, sondern auch in der eigenen Geschichte, an der Grenze, an Orten, an denen man nicht erwünscht ist, in gesellschaftlichen Rollen, die man nur zum Teil erfüllt, in einem Traum, in dem gestern schon letztes Jahr war. 
(Felicia Zeller)

Da ist die lesbische Journalistin Ann Esser, die als Frau schlecht bezahlt und als überzeugte Trotzkistin noch in der Psychiatrie den Aufstand probt; da ist die achtfache Mutter Frieda W., die als Sexarbeiterin die Existenz ihrer Familie sichert. Sie träumt von einer hundertjährigen Schwangerschaft an deren Ende sie der Welt eine neue Welt gebären würde; da ist die junge Lina, deren leidenschaftliche Liebe für einen reichen Bauerssohn gewaltsam eingedämmt wird. In der Einsamkeit ihres Zimmers flüchtet sie sich in die unendlichen Weiten des Universums. Da ist die emanzipierte Geschäftsfrau Johanna S., die die Ehe als nicht mehr zeitgemäß ablehnt. Als ihr Partner sie verlässt und sie aufgrund ihrer zweiten Schwangerschaft ihren Job verliert, bricht sie zusammen. Und da ist der Bericht der bald neunzigjährigen Lissa F., die nach Kriegsende erfährt, dass ihre Mutter keines natürlichen Todes gestorben ist, sowie die Geschichte von Klaus, dessen Zwillingsschwester Christa, die "lacht und schreit wie eine Sirene und für die zwei minus eins null ist", in dem Jahr als er eingeschult wird, getötet wird. Und zuletzt ist da Margarete B., die häusliche Gewalt erfährt und nach ihrer Scheidung jedweden gesellschaftlichen Rückhalt verliert.

Die Psychiatrisierung der Frauen äußert sich im Text in den original erhaltenen, stark schematisierten Arztberichten. Zentral ist jedoch das Leben der Figuren vor ihrer Einlieferung. Tine Rahel Völcker zeichnet sie als widerständige, unangepasste, hungrige Frauen, die ihr Schicksal und die Grenzen, die ihnen gesetzt wurden, nicht akzeptierten.

New York, Ende des 19. Jahrhunderts: Der zweite Jahrestag des Haymarket-Massakers steht vor der Tür, die junge Emma Goldmann hält eine Rede an die Frauen und propagiert den 8-Stunden Tag, die Emanzipation der Frau, freie Liebe und die Befreiung aus der kapitalistischen Arbeitswelt. Mit dabei ihr Geliebter Alexander Berkman, brennender Aktivist in der anarchistischen Bewegung. Gemeinsam kämpfen sie für ihre progressiven Ideen gesellschaftlicher Gerechtigkeit und sind dabei auch bereit radikale Mittel für ihren politischen Kampf zu nutzen.  Das Leben der Anarchistin Emma Goldman bietet beispiellosen Stoff für die drängende Frage nach solidarischen Gesellschaftsidealen, dem Aufbrechen bestehender Normen und nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel im politischen Kampf. Einem Kampf, der in all seiner Dringlichkeit und Radikalität immer auch mit den eigenen Dämonen verbunden ist. Und so sprechen in „Die gefährlichste Frau Amerikas“ jene Dinge und Körperteile, die sich einem oberflächlichen Blick auf Revolution oft entziehen. Da kommen Eizellen zu Wort, Nerven, Hände, Zeitungen und – wie soll es anders sein – die Waffen des Kampfes.

 

Zwölf Jahre nach dem zweiten Weltkrieg kehrt Ivan Hacker dahin zurück wo er, ein Jurist aus Ungarn, während der Nazi-Zeit Zwangsarbeit leisten musste. Wo früher das Konzentrationslager war, ist jetzt eine Kleingartenkolonie. Nichts erinnert mehr an die Opfer des Nazi-Regimes, die mit ihrer Arbeit in Rüstungsunternehmen die Kriegsfähigkeit der deutschen Wehrmacht am Laufen hielten. Und niemand hier will vom ehemaligen Lager gewusst haben.

In ihrem für das Staatstheater Augsburg geschriebenen Stück erschafft Tine Rahel Völcker einen vielstimmigen Chor aus den unzähligen nach Augsburg und Umgebung Deportierten: Sie kamen aus Polen, der Ukraine, Italien und Ungarn, sie waren jüdisch oder Sinti, sie waren Kinder, jugendlich oder erwachsen. Die Autorin nennt sie beim Namen und gibt den weithin Ungehörten ihre Stimmen zurück. Einer unter ihnen Jakob Bamberger. 1938 und 1939 noch deutscher Vizemeister im Boxen, landet er drei Jahre später im KZ.
Dem dröhnenden Volksempfänger, der die gleichgeschalteten Gartenzwerge antreibt, steht der klackernde Rhythmus der Holzpantinen der zur Zwangsarbeit Verurteilten entgegen. Begleitet werden ihre Gesänge vom Überleben vom Chor der Neugeborenen. Sie stellen sich dem Schweigen der Elterngeneration entgegen und kämpfen doch auch Zeit ihres Lebens um eine Herkunft, ihre Geschichte.
Nach Kriegsende sind Überlebende wie Nachkommende mit dem totalen Vergessen in der BRD konfrontiert. Vergeblich kämpft Jakob Bamberger um Wiedergutmachung.

Eindringlich zeichnet "Gesänge vom Überleben" Kontinuitäten rassistischen, antiziganistischen und antisemitischen Denkens bis heute nach.

Es tritt auf: Phryne, die Hetäre, Agamemnons "Beute". Sie stellt fest: Es hat sich einfach zu viel Mist in ihr gesammelt. Mist aus generationsübergreifenden patriarchalen Strukturen, deren Gewalt und Aneignungsmechanismen dringend ein Ende nehmen müssen. Doch zurück zum Geschehen. Agamemnon, der Anführer der Griechen, befindet sich in Aulis, um mit seinem Heer in den Krieg nach Troja zu ziehen. Doch statt Gegenwehr herrscht Windstille und keines seiner Boote kann den Hafen verlassen. Um diesen Bann zu brechen, opfert er vor den Augen seiner Frau Klytaimnestra die eigene Tochter Iphigenie – und zieht in den Krieg.

In der Zwischenzeit kehrt Klytaimenstra zusammen mit Phryne nach Mykene zurück und übernimmt dort die Macht. Beide vereint der unbedingte Drang, das Leben selbstbestimmt zu leben, nie mehr Opfer zu werden. Und als Agamemnon aus dem Krieg zurückkehrt, wird klar, dass kein Mann diese neue Ordnung durcheinanderbringen darf. Die einzige Lösung ist, Agamemnon zu beseitigen. Auch Klytaimnestras verbleibende Tochter Elektra soll diesem Schicksal entgehen. Sie aber solidarisiert sich mit ihrem Vater, versucht ihren Bruder Orest gegen die Mutter aufzubringen und die gewohnten Machtstrukturen wieder einzuführen. Doch dieser ist auf Versöhnung aus und strebt ein unkonventionelles Ende an: den Neuanfang.

Tine Rahel Völcker erzählt in ihrer Antikenüberschreibung den Umfang und die erschreckende Vielfalt von immer wieder reproduzierten Gewaltmechanismen. Mit präzisem Humor wird hier männlicher Deutungshoheit ein Ende gesetzt und der utopische Blick in ein anderes Denken und Handeln gewagt.

Extras

Übers Theaterschreiben.pdf

Tine Rahel Völcker im Gespräch mit Massimo Maio bei DEUTSCHLANDFUNK KULTUR über ihr Buch Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez-vous de Tarnów, erschienen bei SPECTOR BOOKS.

Fünf Tage Lublin ein Jahr.pdf